Klaus Lengert

Klaus Lengert

| Heimkind in der Königsheide von 1957 bis 1968

 

Einleitung

Klaus Lengert wurde am 17. März 1953 unter unklaren Umständen wahrscheinlich in Berlin geboren. Als unehelicher Sohn eines unbekannten Vaters und einer Mutter, die zum Zeitpunkt der Geburt inhaftiert war, blieb Lengert der Genuss familiärer Wärme von Anfang an in Kindheit und Jugend verwehrt.

Schon bald nach der Geburt wurde seiner Mutter das Sorgerecht aufgrund einer möglichen Gefährdung des Kindeswohls nach § 1666 entzogen. Die erste Zeit verbrachte Lengert gemeinsam mit seinem nur neun Monate älteren Bruder bei seiner damals noch berufstätigen Großmutter. Aufgrund von Überlastung und finanzieller Not der älteren Dame – in der Wohnung der geschiedenen Großmutter lebten neben ihr und den beiden kleinen Enkeln auch der eigene noch minderjährige Sohn – wurden die beiden Knaben zunächst in eine Krippe, später an verschiedene Kinderheime abgeben. Über das Kinderheim „Gottesschutz“ in Erkner landete Lengert schließlich vierjährig mit seinem Bruder im November 1957 im Kinderheim Königsheide, in dem er die folgenden elf Jahre bis zum Beginn seiner Schlosser-Lehre vorwiegend in den Häusern 2 und 4 verbringen sollte.

Die vorhandenen schriftlichen Überlieferungen zeichnen ein wenig vorteilhaftes Bild von Lengerts Mutter: Die Einweisung in das Heim „Gottesschutz“ in Erkner wird von amtlicher Stelle damit begründet, dass von ihr eine „Gefahr für die beiden Kleinkinder“ ausgehe, die wegen des Schichtdienstes der Großmutter tagsüber und oft auch nachts sich selbst überlassen waren. Von der Großmutter das Haus verboten, trieb sich Lengerts Mutter demnach in der Gegend herum, sodass ihr Aufenthaltsort selbst von der Kriminalpolizei zeitweilig nicht festgestellt werden konnte. In einem weiteren Schreiben wird hervorgehoben, dass bei einem der regelmäßigen Besuche der Großmutter in Erkner die Mutter dabei war, die sich zu dem Zeitpunkt in Freiheit befand – was meist „recht kurzfristig“ der Fall gewesen sei.

Das Leben der Mutter, die ihre Jugend an den Krieg verloren hatte, sollte sich erst einige Jahre später nach der Gründung einer neuen eigenen Familie stabilisieren. Das Verhältnis zu Lengert normalisierte sich jedoch Zeit ihres Lebens nicht mehr. Für Lengert war seine Mutter nur die Frau, die ihn in die Welt gesetzt hatte. Dass er und sein Bruder – die beiden unehelichen Erstgeborenen – die Leidtragenden von der damals offenbar noch unreifen Mutter waren, nimmt ihr Lengert bis heute noch übel. Deutlich näher war sicherlich Lengerts Beziehung zu seiner Großmutter. Deren „West-Schmöker“ er bei Ausflügen im damals noch nicht von der Mauer eingezäunten West-Berlin in seiner Unterhose über die Grenze schmuggelte.

 

„Klaus Lengert (links) mit Großmutter und Bruder, 1950er Jahre“

Der Einzelgänger im Kollektiv

Eine Stütze stellte für Lengert in der Anfangszeit im Kinderheim Königsheide der ältere Bruder dar, obwohl die beiden in getrennten Häusern und Gruppen untergebracht waren. Der Bruder übernahm schon früh eine Führungsrolle im Kinderkollektiv. Aufgrund diverser Probleme musste dieser das Heim Mitte der 1960er Jahre in Richtung eines Jugendwerkhofs verlassen. Lengert, der in seiner Zeit im Kinderheim stets eine Außenseiterrolle einnahm, fiel es schwer, Bezugspersonen in der Königsheide zu finden. Dies hing mit Sicherheit damit zusammen, dass die Fluktuation der Kinder in den Wohngruppen temporär sehr hoch sein konnte. Ein anderer Grund könnte Lengerts angeborener Drang zum Einzelgängertum sein. Bereits ein früher Heimbericht beschreibt ihn als jemanden, der den anderen Kindern entfliehe und „wegen des Ungezügelten ständiger Aufsicht“ bedürfe.

Bei der Beurteilung der Erzieher in der Königsheide differenziert Lengert heute zwischen guten und schlechten. Mit „gut“ bezeichnet Lengert vor allem diejenigen, die auf die Bedürfnisse der Kinder eingingen und ein gewisses Maß an Nähe zuließen. Auffällig ist, dass dieser Typus von Erzieher grundsätzlich nicht lange im Heim blieb. Besser war das Verhältnis zum übrigen, nicht-pädagogisch tätigen Heimpersonal. So durften beim Essen grundsätzlich keine Brotkanten verteilt werden, sondern nur die mittleren Teile des Brotes. Auf besondere Nachfrage und dem Anbieten von Gegenleistungen wie Abwaschen konnten die Heimkinder doch noch an Brotkanten gelangen, die von besonderes großzügigen Küchenfrauen mit Extraportionen Wurst und Käse belegt wurden.

Lengert zählt zu den Zeitzeugen der frühen Tage des Heimes in der Königsheide. Das Kinderheim war nur wenige Jahre vor Lengerts Einweisung als Prestigeobjekt der DDR eröffnet worden. Nach den Angaben Lengerts stand jedoch politische Erziehung nicht so stark im Fokus des dortigen Erziehungssystems wie dies ein paar Jahre später praktiziert wurde. Fahnenappelle und Umzüge fanden zwar schon statt, doch Lengert wurde als notorischer Einzelgänger und Nicht-Pionier bei solchen Zeremonien gewöhnlich in der Masse bzw. in den hinteren Reihen versteckt. Lengert kann sich weder an das Malen von Wandzeitungen zu aktuellen politischen Themen noch an das gemeinsame Sehen und Besprechen von Fernsehsendungen wie der „Aktuellen Kamera“ oder dem „Schwarzen Kanal“ erinnern.

Ebenso wenig sollen Hierarchien innerhalb des Kinderkollektivs eine übergeordnete Rolle gespielt haben, wie sie bei Anton Makarenko, dem Begründer der Kollektiverziehung, als Brigaden und deren Kommandeure beschrieben werden. Erst nach Lengerts Auszug aus der Königsheide wurde das Heim nach dem Sowjetpädagogen benannt. Kinder aus der Umgebung des Heimes hatten zudem noch nicht die Möglichkeit, die Schule auf dem Gelände zu besuchen, wie es später der Fall war [Tatsächlich hatten Kinder aus der Umgebung von Anfang die Möglichkeit, die Heimschule zu besuchen. Anmerkung der Verfasser]. Den Stellenwert von Ordnung und Disziplin schätzt Lengert für die Jahre, die er in der Königsheide verbracht hatte, nicht so hoch ein, wie man es sich heute rückblickend vorstellen würde, auch wenn er die Existenz von Kollektivstrafen wie die sogenannte „Gruppenkeile“ nicht abstreitet.

Auf die im Nachhinein naiv erscheinende Frage, inwiefern disziplinarische Vergehen mit Strafen wie Ausgangsverbot geahndet wurden, antwortet Lengert, dass sich jeder nach Belieben Ausgang über den Zaun mit den paar lockeren Latten hinter dem Sportplatz verschaffen konnte. Lengert erinnert sich zum Beispiel an einen „Ausbruch“, bei dem er unerlaubt das Heim verließ, um eine der ersten Rolltreppen in der DDR am umgestalteten S-Bahnhof Alexanderplatz anzusehen und stundenlang rauf und runterzufahren, bis die Polizei kam und ihn zurück in die Königsheide brachte. Bei späteren unerlaubten Ausgängen ging es vor allem darum, sich beim Konsum Zigaretten zu besorgen. Lengert lehnte es ab, der FDJ und ähnlichen staatsnahen Organisationen beizutreten oder sich langfristig für das im Sozialismus so bedeutende Kollektiv zu engagieren. Bis heute fehlt ihm, der stets unpolitisch gewesen ist, eine plausible Erklärung dafür – am ehesten sei dies wohl auf seinen „Dickkopf“ und sein Einzelgängertum zurückzuführen, mutmaßt er. Die Neigung, dem Kollektiv bzw. seinen Organisationen zu entfliehen, machte Lengert vor allem nach seiner Heimzeit in der DDR politisch verdächtig.

Nachleben

Wie gestaltete sich das Leben nach der Zeit im Kinderheim? Für Lengert gab es – wie für praktisch alle seiner nicht-privilegierten Altersgenossen in dieser Zeit – keine Möglichkeit, eigene Träume und Ziele zu verwirklichen, geschweige denn zu überlegen, welche Laufbahn er einschlagen könnte. Der Lebensweg war über die direkt anschließende Schlosserlehre vorgezeichnet, so wie das gesamte Leben in der DDR nach Lengerts Auffassung fremdbestimmt war. Makarenko, der große Sowjetpädagoge, hatte bereits in den 1920er Jahren festgelegt, dass die Interessen des Kollektivs über den Interessen des Einzelnen stehen – für das sozialistische Erziehungssystem des deutschen Bruderstaates gab es keinen Grund, von dieser Doktrin abzuweichen. Das Heimkind musste sich nach dem Willen des Staates in das Kollektiv der Werktätigen eingliedern.

Lengerts Einzug in die erste richtige Wohnung erfolgte nach Abschluss der Lehre, wobei die ihm vom Staat zugewiesene „Wohnung“ eher eine Ruine war, in der beim Tapezieren die Wand einstürzte. Auch wenn für Lengert die Zeit in der Königsheide nicht so schlimm gewesen sein mag wie womöglich für andere Zöglinge, so fühlte er sich im nachfolgenden Leben als Heimkind doch stigmatisiert. Dazu zählt er das Anhören von Sprüchen auf der Arbeit und auf Behörden, welches in ihm das Gefühl, nicht dazu zu gehören, verstärkte und Lengerts Rolle als Außenseiter bestätigte. Zudem blieb ein grundsätzliches Misstrauen beim Eingehen von sozialen Beziehungen bestehen. Mit einem Schmunzeln erzählt Lengert allerdings, dass er nur einmal in seinem Leben richtig nervös gewesen sei: nämlich als er von seiner zukünftigen Gattin seiner neuen Familie vorgestellt wurde. Die Schwestern seiner Verlobten hätten ihn gemustert und sein Verhalten genauestens beobachtet. Wider Erwarten stellten sie fest, dass das ehemalige Heimkind doch recht ansehnlich mit Messer und Gabel umgehen konnte.

 

 „Klaus Lengert auf dem Gelände des ehem. Kinderheims, Dezember 2017“

 

Auch lange nach der Heimzeit blieb Lengert seinem bereits im frühkindlichen Alter attestierten „Dickkopf“, der es „im Leben mal schwer haben wird“, treu. Die sozialistische Erziehung griff im Fall von Lengert offenbar nicht und scheiterte daran, ihn zu einem disziplinierten und systemtreuen Staatsbürger zu formen. Kurz nach seiner Entlassung aus der Königsheide beteiligte er sich an einem Silvesterabend an dem Aufbruch der Speisekammer im Lehrlingswohnheim, um die aufgesparten und zurückgehaltenen Nahrungsvorräte im Lehrlingskollektiv zu verteilen.

Er entging nur deshalb einer Verurteilung, da diese Tat nach Auffassung des Gerichts zum Wohle des Kollektives begangen wurde. Aufgrund von Vorstrafen und Bewährungen war es Lengert zunächst vorenthalten, den sozialistischen Staat im Zuge seines Wehrdienstes gegen die imperialistische Bedrohung verteidigen. 1987 wurde der störrische, aber stets unpolitische Einzelgänger doch noch als Reservist in die Armee eingezogen, da dessen Aufenthalt im Berlin anlässlich der 750-Jahr-Feier unerwünscht war.

Lengerts verspäteter Armeedienst fiel ausgerechnet in die Zeit, als dessen Sohn eingeschult wurde. Doch wegen Lengerts Weigerung, die Armeezeitung zu abonnieren, wurde ihm der Ausgang zur Einschulung zunächst untersagt, bis er einen Brief an die Beschwerdestelle in Potsdam vorbereitete und er für wenige Stunden doch noch frei bekam. Bis zum Zusammenbruch der DDR blieb Lengert ein unbequemer und unangepasster Bürger, der durch die Kollektiverziehung nicht nach den gewünschten Vorgaben der Staatsführung sozialisiert worden ist. Sei es, dass Lengert vor dem Rathaus Köpenick für einen größeren und besser beheizbaren Wohnraum für seine junge Familie protestierte oder sich mithilfe von Leserbriefen an die Berliner Zeitung für einen sicheren Kinderspielplatz ohne herabhängende Starkstromkabel einsetzte. Es erscheint nachvollziehbar, dass der unbequeme Bürger Lengert heute ein starkes Interesse an seiner Stasi-Akte zeigt, doch diese wurde ihm erst ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall ausgehändigt – zum größten Teil geschwärzt.

 

„Klaus Lengert mit Ehefrau, 1980er Jahre“
„K. Lengert mit Kind & Mutter, 80er Jahre“

 

Lengert fällt es heute schwer, sich ein Urteil über seine Zeit im Kinderheim zu bilden. Einerseits bezeichnet er diese Periode für sich als abgeschlossen, andererseits fehlen ihm die Vergleichsmöglichkeiten, da er aufgrund schwieriger Familienverhältnisse ausschließlich im Heim aufgewachsen ist und daher nicht einschätzen kann, welchen Verlauf sein Leben in einem geordneten Familienleben genommen hätte. Allerdings war er froh darüber, als die Zeit der absoluten Fremdbestimmung eines Tages mit der Heimentlassung zu Ende ging, auch wenn er in den folgenden Jahren bis zum Zusammenbruch der DDR wegen seines Einzelgängertums und seines auffälligen Verhaltens immer wieder in Konflikte mit Behörden und Obrigkeiten geriet. Familiär scheint Lengert jedoch sein Glück gefunden zu haben – zumindest wirkt der stolze Ehegatte, Vater und Großvater auf die Verfasser dieses Porträts so.

 

Hier folgt das Interview mit Klaus Lengert.
Aufgrund der Länge des Videos, ist der Film in drei Abschnitte geteilt. 

 

Zur verwendeten Musik:

Die Musik stammt vom Komponisten Alexander Skrjabin. Die Einspielung wurde vom Interpreten Nico de Napoli als CC PD (Public Domain) ausgegeben.
Zur Quelle des Downloads

 

Klaus Lengert | Projektarbeit von 
Joris Lui Busch, Magdalena Müller