Hildegard Horch & Jürgen Scheffler

Hildegard Horch & Jürgen Scheffler

Hildegard Horch | Heimkind in der Königsheide von 1961 bis 1966
Jürgen Scheffler | Heimkind in der Königsheide von 1960 bis 1965

 

Hildegard 


Hildegard Horch wurde im April 1949 in Berlin geboren. Sie wuchs in der DDR auf, wo sie eine Ausbildung zur Fachverkäuferin machte.
Da ihr Vater früh verstab und auch ihre Mutter tödlich erkrankte, kam sie zusammen mit ihrer jüngeren Schwester im Jahre 1961 ins Kinderheim. Die beiden wurden von der Schule abgeholt und ohne Vorankündigung in die Königsheide gebracht. Hildegard berichtet: „Als ich von der Schule abgeholt wurde und ins Heim kam, besaß ich nur die Sachen, die ich auf dem Leib hatte. Ich habe nichts als meinen Besitz wahrgenommen.“ Zu diesem Zeitpunkt war sie 12 Jahre alt. Im August 1966 wechselte sie vom Kinderheim in ein Lehrlingswohnheim, in dem sie weitere zwei Jahre verbrachte. Sie verlor erneut ihren gesammelten Besitz, als dieser bei einer Renovierung des Wohnheims abhanden kam.

Heute ist Hildegard Mutter einer erwachsenen Tochter und stolze Oma. Sie ist verwitwet und lebt in einer Beziehung mit Jürgen.

 


Jürgen 

 

Jürgen Scheffler wurde im September 1948 in Berlin geboren. Er wuchs in der DDR auf, wo er eine Ausbildung zum Schlosser machte.
Seine Eltern verstarben früh und so kam er zusammen mit seinem jüngeren Bruder im Jahre 1960 ins Kinderheim. Zu diesem Zeitpunkt war er 12 Jahre alt. „Wir hatten das Glück, da, in dem Heim zu sein“, mit Warmwasser und Zentralheizung, weiß er heute zu berichten. Im August 1965 wechselte er von der Königsheide in ein Lehrlingswohnheim, wo er bis Anfang 1968 wohnte.

Er ist geschieden und sah Hildegard nach 43 Jahren bei einer Veranstaltung des Vereins der Königsheider Eichhörnchen wieder. Zwei sehr ähnliche Lebensläufe verbindet die beiden, die sich nach so vielen Jahren wiedergefunden haben und seitdem nicht nur ihre Vergangenheit, sondern auch ihre Zukunft miteinander teilen möchten.

 

Thema und Arbeitsprozess

 

„Nur bedeutsame Vergangenheit wird erinnert, nur erinnerte Vergangenheit wird bedeutsam“, schreibt Jan Assmann. (Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 77) Ein Gedanke, der uns während unserer Zusammenarbeit mit zwei Zeitzeugen aus dem ehemals größten Kinderheim der DDR begleiten sollte. Eine ganz neue Erfahrung, vielleicht auch in gewisser Weise eine Herausforderung, denn mit dem Aufbereiten von Erinnerungen geht Verantwortung einher.
Wir näherten uns der Thematik also zunächst sehr vorsichtig. Wir, das sind übrigens Tina und Katja. Wir wollten mehr von den Menschen erfahren, die uns gegenüber saßen, ihnen Fragen stellen, zuhören und versuchen zu verstehen, wie sie sich damals fühlten und in wie fern die äußeren Umstände ihre Person geformt haben. Immer mit dem Ziel vor Augen ihre Geschichten für andere erfahrbar zu machen, die, wie wir vor diesem Projekt, kaum eine Vorstellung vom Leben in einem Kinderheim der DDR in den 1960er Jahren haben.

 

 

27.10.2016

Als Gruppe fuhr der Projektkurs nach Johannisthal, einem Ortsteil des Bezirks Treptow-Köpenick, um das Gelände gemeinsam zu besuchen, auf dem ab 1953 bis ins Jahr 1988 stets circa 600 Kinder und Jugendliche untergebracht waren. Ich erinnere mich noch daran, dass ich von den vielen hohen und an diesem kalten Oktobertag meist schon kahlen Bäumen überrascht war, welche die Baustelle einrahmten, auf deren Fläche Eigentumswohnungen entstehen sollten. Ich dachte mir, im Frühling müsse es hier sehr schön sein, wenn alles wieder anfing zu sprießen. Mein Blick wanderte nach oben zu den Baumwipfeln, zu deren Fuße man sich so unheimlich klein fühlte.

Am Eingang vermissten wir das Tor mit dem schmiedeeisernen Eichhörnchen, dem Symbol der Königsheide. Doch ein Sgraffito links neben dem Eingang sowie der stalinistisch-klassizistische Baustil versuchten uns Besucher in die Bauzeit zurückzuversetzen. Doch das Gefühl einer Rückblende wollte sich nicht ganz einstellen, der Bruch zu den vielen Baugerüsten, den schuftenden Arbeitern und dem roten Graffiti über den Kindern, die damals künstlerisch in die Wand gekratzt wurden, war zu groß. Ein Bauprojekt im Spannungsfeld vieler Interessen: Ein Denkmal geschütztes Gelände mit einer besonderen Geschichte, aus heutiger Sicht Wohnraum zwecks eines finanziellen Gewinns des Investors.

Immer wieder kommt mir die Frage in den Kopf: Wer möchte hier wohnen? Denn die Geschichten der ehemaligen Heimkinder sind sehr verschieden. Manche berichten von einer verhältnismäßig glücklichen Kindheit, andere erinnern sich an körperliche Bestrafungen und Maßregelungen. Dabei ist zu beachten, dass dieses Kinderheim seinen Nutzen wandelte. Nach der Eröffnung wurde es 1968 in ein Heimkombinat nach dem sowjetischen Pädagogen A. S. Makarenko umbenannt, auf den man sich inhaltlich für die Kollektiverziehung berief. Nach 1981 wurde es dann zu einem Hilfsschulheim. Die Erziehung allseitig gebildeter sozialistischer Persönlichkeiten war den Erziehern des Vorzeigebaus der DDR politisch vorgeschrieben.

Die idyllische Fassade begann in meinem Kopf zu bröckeln. Der Zaun um das Gelände wirkte beengend, die grauen Gemäuer der Gebäude trist. Als ich versuchte mir vorzustellen, wie auf diesen Wegen einst Kinder tobten und diese massiven Gebäudeblöcke mit Leben füllten, überkam mich ein mulmiges Gefühl.

 

 

01.12.2016

Es war die wohl aufregendste Seminarsitzung des ganzen Projekts: Die Zeitzeugen und die Studierenden trafen erstmals aufeinander. Nach und nach bildeten sich Gruppen mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten heraus. Jürgen und Hildegard, die spontan einen Freund zu dem Treffen begleiteten und sich vor Ort dazu entschieden, an dem Projekt mitzuwirken, wurden uns zugeteilt. Wir kamen ins Gespräch und schnell wurde uns klar, dass die Chemie stimmte. Die beiden haben schon früh Schicksalsschläge erleben müssen, so wie es bei vielen Heimkindern der Fall ist. Trotzdem saßen uns zwei so liebenswerte Menschen gegenüber, die bereit waren, ihre Biografien mit uns zu teilen, um ein Stück persönlicher Geschichte als Teil des großen Ganzen festzuhalten. Das Thema „Hab & Gut“ sollte unser Schlüssel zu ihren Erinnerungen an ihre Zeit in der Königsheide sein. Denn wir konnten uns nicht ausmalen, welchen Besitz Heimkinder ihr Eigen nennen konnten, wie sie ihn aufbewahrten und was sie überhaupt als wertvoll empfunden haben.

 

 

08.12.2016

Bereits eine Woche nach dem ersten Aufeinandertreffen waren wir bei Hildegard eingeladen. Wir wurden mit selbstgebackenen Plätzchen herzlich in Empfang genommen und hatten uns zum Ziel gesetzt, die beiden zunächst einfach etwas besser kennenzulernen. Dazu sollten uns auch ein biografisch und ein thematisch ausgerichteter Fragebogen dienen, den wir den beiden da ließen. So konnten sie sich in Ruhe Gedanken darüber machen, was sie von sich aus gerne einbringen würden und welche Themenfelder wir bei unserem Interview besser aussparen sollten.

Das Gespräch bekam allerdings schnell mehr Tiefgang und die beiden regten sich gegenseitig zu immer mehr Erinnerungen an, die durch unsere Fragen angestoßen wurden. Wir erfuhren, dass sie als Vollwaisen ins Heim kamen. Unverständlich war uns vor allem, wie die beiden Geschwisterpaare im Heim getrennt werden konnten. Schlicht nach dem Alter aufgeteilt, sahen sie die einzig vertraute Person, die ihnen geblieben war nur noch, wenn es die Freizeit zu ließ. Jürgen hatte dabei noch das Glück, wie er selbst sagte, dass er ab und an Bekannte besuchen durfte.

Zur freien Verfügung stand ihnen ihr Taschengeld, dass sie ab der achten Klasse bekamen und das an ihre Schulleistungen angepasst wurde. Gute Leistungen wurden mit 40 Ostmark belohnt, sonst bekam man 30 Mark. „Wie das so im Leben ist“, schlussfolgerte Jürgen. Außerdem bekamen die Vollwaisen 300 Mark zur Verfügung gestellt, jeweils für Winter- und für Sommerbekleidung. Dazu gehörten für die Mädchen Strümpfe, Unterwäsche und Unterrock, ein Kleid, ein Sommermantel und ein Tuch. Im Winter bekam man dann noch Schuhe und einen Wintermantel. Sie fuhren mit einer Gruppe, geleitet von einem Erzieher einkaufen und durften sich die Sachen selbst aussuchen. Hildegard erinnert sich noch an ihren Ausflug mit einer besonders modebewussten Erzieherin, die laut Hildegard vorschlug: „Mensch Mädels, dann machen wir jetzt ne Modenschau.“ Nach der Reihe führten die Mädchen also ihre Sachen vor, die sie sich für ihre Jugendweihe ausgesucht hatten. Auch die Jungen bekamen zu ihrer Jugendweihe einen Anzug, ein Hemd, Unterwäsche und Schuhe geschenkt. „Und dann, einen Tag vorher sind wir dann alle zum Friseur gegangen. Nicht im Heim, sondern richtig draußen zum Friseur, mit Termin und Locken drin (…) man sah ja so entstellt aus damit, aber ist egal. Man hat sich schön gefühlt, man wurde schön gemacht, also war man schön. Und dann hat man die ganze Nacht im Bett gesessen, dass da ja kein Haar da irgendwie wieder krumme wird“, erzählte uns Hildegard mit Tränen in den Augen vor Lachen.

Neben der Jugendweihe war natürlich auch Weihnachten ein besonderes Ereignis für die Kinder. Ihre Erinnerungen an die Feiertage sind noch besonders lebhaft. Im Heim konnten sich die beiden etwas für 20 Mark wünschen, während die Halbwaisen ein Geschenk im Wert von 10 Mark bekamen. Anfangs, erzählte Hildegard, wünschte man sich Handschuhe und andere Anziehsachen. Aber je älter man wurde, umso klarer wurde einem, dass man eines Tages aus dem Heim rauskommen wird: „Man braucht ja Geschirrhandtücher, Händehandtücher (…), da hat man sich eben solche Sachen gewünscht.“ Hildegard konnte uns sogar die Handtücher aus chinesischer Baumwolle zeigen, die sie über all die Jahre aufbewahrt hat. Uns erstaunte, wie pragmatisch die beiden schon in ihrer Jugend gedacht haben.

So lustig die Stimmung war, so ernst konnte sie auch werden. Besonders berührend war der Moment, als Hildegard uns ihr einziges Foto ihrer verstorbenen Mutter zeigte. Es steht neben einer gerahmten Bleistiftzeichnung, mit der sie sich selbst ein Bild ihres Vaters gemacht hat.

Unser thematischer Schwerpunkt entfernte sich im Laufe unserer Zusammenarbeit immer mehr von materiellen Gütern. Familiäre Bande, Freundschaften und Partnerschaft rückten als wertvollster Besitz immer mehr in den Fokus der Betrachtung.

 

 

02.01.2017 

Im neuen Jahr fanden wir uns mit einem ausgearbeiteten Fragebogen und technischem Equipment wieder in Hildegards Wohnung ein, um die beiden in gewohnter und gemütlicher Atmosphäre zu interviewen. Wir entschieden uns, die gerahmten Fotos an der Wohnzimmerwand in unseren Bildausschnitt aufzunehmen, denn sie tragen als Urlaubsbilder der beiden aus Amsterdam eine besondere Bedeutung. Zum einen sind sie Zeugnis der besonderen Beziehung der beiden, die großen Wert darauf legen, gemeinsam zu verreisen und schöne Erinnerungen miteinander zu teilen. Hildegard erzählte uns außerdem schon im Vorfeld von einem Kinderbuch, dass sie noch vor ihrem Einzug ins Kinderheim von ihrem Onkel geschenkt bekam. Sie konnte es nicht mitnehmen, erinnerte sich aber noch genau an die Geschichte des Mädchens, das ihre Schularbeiten nicht machen wollte und sich auf magische Weise eine Doppelgängerin erschuf, welche die unbeliebten Aufgaben machen sollte, während sie selbst die Welt bereiste. Hildegard erzklärte uns später lachend zu den Fotos: „Ich musste doch gucken wo das Mädchen da im Blumenfeld gelandet ist.“
Das Lesen spielte für Hildegard eine große Rolle in ihrer Kindheit: „Was ich wahnsinnig gerne gemacht habe, ich habe gerne gelesen, viel gelesen! (…) war vom Heimleiter die Frau gewesen, die die Bibliothek unter sich hatte. Und da war ich oft gewesen und habe mir viele viele Bücher geholt und da gelesen. So was eigenes habe ich nicht gehabt.“

Ein Blick aus dem Wohnzimmer im 16. Stock ließ uns von oben auf den Tierpark schauen, in dem Hildegard mit ihrer Jahreskarte gerne spazieren geht und mit Freude die Tiere beobachtet. Zahlreiche kleine Tierfiguren dekorieren auch ihre Wohnung. Sie erkennt selbst, dass sich über die Jahre wohl eine Art Sammelleidenschaft entwickelt hat. Die kleinen Figuren sind liebevoll platziert und haben alle ihre eigene Geschichte, die sie zu etwas Besonderem machen. Wie zum Beispiel Karo, den Elch, ein Geschenk von Jürgen, der vorwitzig hinter dem Tisch hervorschaut. Sie erzählte uns außerdem die Geschichte eines ungewöhnlichen Tauschgeschäfts, das schon damals ihren Hang zu kleinen Tierfiguren erkennen ließ: „Irgendwann habe ich mal einen Tennisball geschenkt gekriegt und joa, war nun nicht so das Highlight. Aber eine andere Freundin, die hatte so nen, das war so wie aus Plaste, so n flachen, wie ne Buchseite im Grunde genommen, der Bär von Bärenmarke, dieses Werbedings. Und das war so toll, das habe ich gegen den ollen Ball eingetauscht.“

Jürgen erinnert sich gerne an die Arbeitsgemeinschaft der Freiwilligen Feuerwehr zurück. Die Kinder hatten richtige Anzüge und Mützen und bekamen auch einen Anhänger mit Schläuchen für Löschübungen bereitgestellt. Mit zwei Gruppen sind sie sogar mal zu einem Wettkampf gefahren und konnten sich den ersten und zweiten Platz erkämpfen, das war für ihn etwas ganz besonderes.

Auch die Ferienlager sind den beiden gut in Erinnerung geblieben, die gemeinsamen Erlebnisse schweißten die Kinder noch mehr zusammen. So wie zum Beispiel die Winterferien in Thüringen, wo ihre Klasse Skiurlaub in Schnett machen durfte. Der Erzieher brachte den Kindern das Skifahren. „Da sind wir noch abgehauen. Die Ilona, wir wollten die Skier ausprobieren, hoch mit den Skiern und den Berg runter. Wir wussten gar nicht wie es geht. (lacht) Das war so lustig gewesen. Bebechen vorweg, ich hinterher und Ilona, die hat nen Pferdeschwanz gehabt und die hat dann so gelegen (streckt alle Arme und Bein von sich), der Pferdeschwanz ganz aufgespießt im Gestrüpp, ja und die kam gar nicht mehr los da.“ Die beiden waren sich einig: „Das vergisst man nicht.“ Dicke Freundschaften von damals sind bis heute bestehen. Auch, wenn man sich mal für einige Jahre aus den Augen verlor. Über gemeinsame Kontakte oder Foren wie Stay Friends konnten sie einige Freundschaften wieder aufleben lassen.

 

 

Maulwurf 

Hildegard: „Als wir noch nicht im Heim gewesen sind, bin ich mit meiner Schwester und einer anderen Freundin (…) da untern den Linden [in] das Zeughaus (…) und da war ein Kinosaal und da konnte man kostenlos Kino gucken. Und da gab es mal Kinderfilme mit dem Maulwurf. Eine Tschechische Serie, wie der Maulwurf zu seinem Höschen kam. Und diesen Film habe ich bestimmt 50 mal gesehen, aber der war so schön und in den Maulwurf war ich so verliebt gewesen. Und eines Tages habe ich dann mal so einen Maulwurf geschenkt gekriegt, von meinem Mann und von meiner Tochter, weil ich gesagt habe, dass der mich an meine Kindheit erinnert. (…) Den habe ich dann nicht mehr gehabt, dann war ich ja im Heim und irgendwann kommt alles wieder ‒ kommt alles wieder zu einem zurück. Der Maulwurf auch.“

 


 

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Hildegard Horch & Jürgen Scheffler
Projektarbeit von Katja Marciniak und Tina_Blume