Brigitte Hoffmann

Brigitte Hoffmann 

| Heimkind in der Königsheide von 1959 bis 1969 

 

 

Der Keller

Im Jahr 1951, als in der DDR der erste 5-Jahresplan in Kraft tritt und in der BRD Theodor Heuss die neue Nationalhymne vorstellt, wird in einem Keller in der Fehrbelliner Straße in Berlin Brigitte Hoffmann geboren. Bereits kurz nach ihrer Geburt lässt ihre Mutter sie im Stich, sie verschwindet in den Westen, wo ihre Spur sich verliert. Ihr Vater denkt nicht daran, Brigitte als seine Tochter anzuerkennen. Den sich selbst überlassenen Säugling findet schließlich Emma Bormann, die Mutter von Brigittes Vater. Sie nimmt das Baby auf und schenkt ihm die Zuneigung, die seine Eltern ihm verwehren.
Brigitte wächst bei ihrer Großmutter auf und wird eingeschult. Ab und zu kommt ihr Vater zu Besuch. Er wohnt gleich um die Ecke. Er schlägt sie. Ihre Grußmutter versucht, sie zu beschützen. Ihre Großmutter ist alles für Brigitte. Als sie in die zweite Klasse kommt, übernimmt die staatliche Jugendfürsorge ihre Vormundschaft, und Brigitte wird in das Kinderheim in der Königsheide eingewiesen.
Auf der Heimkarteikarte, die für Brigitte angelegt wurde, wird ihre Einweisung vage mit einer „ungünstigen Familiensituation“ begründet. Die Felder auf der Rückseite des Blattes, in denen genauere Angaben zu dieser Situation gemacht werden können, wurden nicht ausgefüllt. Der Vater des Kindes wird als „nicht bekannt“ aufgeführt. Unklar, ob es sich hier um einen Fehler oder einen Euphemismus handelt. Brigittes Mutter wird, penibel der Konvention folgend, mit allen vergangenen Namen aufgeführt. Darüber hinaus wurde ihre Adresse erfasst, Triftstraße 39 in Berlin N65. Die Triftstraße liegt in Wedding, nur einen Katzensprung von der Brunnenstraße entfernt, wo Brigitte zusammen mit ihrer Großmutter gelebt hat, doch seit einigen Jahren lag der Wedding in einem anderen Land.
Emma Bormann taucht immer wieder auf, sowohl in Brigittes Heimkarteikarte wie auch auf ihrem Versicherungsausweis. Sie ist diejenige, bei der Brigitte vor ihrer Einweisung untergebracht gewesen ist, und sie wird auch als nächste Angehörige, zu der eine „gute Verbindung“ seitens des Heimes bestehe, aufgeführt. Auf dem Versicherungsausweis heißt es, sie, „die Mutter des Erzeugers“, habe sie dem Kinderheim „zugeführt.“ In der Heimakte dagegen wurde als einweisende Stelle der Rat des Stadtbezirks Mitte vermerkt. Mehr ist über die Heimeinweisung von Brigitte nicht mit Sicherheit zu sagen.
Doch dieser offizielle Vorgang, so vage er auch rekonstruiert werden kann, hat keinerlei Ähnlichkeit, mit der Geschichte, wie sie der 8-jährigen Brigitte präsentiert wird. Ihr Vater ist es, der ihr unterstellt, sie habe ihrer Großmutter 50 Mark geklaut. Als Strafe dafür, erklärt er ihr, müsse sie nun ins Heim. Er blieb bei dieser Geschichte bis zum Ende seines Lebens. Brigitte Hoffmann lernte die offizielle Version ihrer Heimeinweisung erst vor einigen Jahren kennen, als ihre Heimakte in ihre Hände gelangte. Eines der wenigen Überbleibsel, das die zehn Jahre, die sie in der Königsheide verbrachte, dokumentiert. Doch seine Aussagekraft ist beschränkt. Die Felder lückenhaft ausgefüllt. Am Ende wirft die Akte selbst mehr Fragen auf, als sie beantwortet, und zum tatsächlichen Grund für Brigittes Heimeinweisung schweigt sie.

 

 

Im Kinderkombinat

Die erste Zeit im Heim ist schlimm für Brigitte. Vor vollendete Tatsachen gestellt, wie Erwachsene das mit Kindern nun einmal machen, bleibt ihr nichts übrig, als sich ihnen zu fügen. Die Routine im Kinderheim in der Königsheide tut ihr Übriges, um frisch hinzugekommene Fürsorgezöglinge mit dem Kollektiv zu verschmelzen. Geweckt wird man um 6:30 Uhr, frisch gebürstet geht es zum Frühstück, dann zum Unterricht in die eigens für das Kinderheim gebaute Schule. Die Freizeit ist für Zirkelarbeiten reserviert. Jedes Jahr im Herbst geht es nach Brandenburg zur Kartoffellese und auf den Mai-Demonstrationen bilden die Kinderheim-Kinder einen eigenen Block.

Die Erzieher wechseln häufig. Kein Kind denkt daran, seine Probleme mit ihnen zu teilen. Die klärt man in der eigenen Generation, notfalls handgreiflich. Hier, unter den Gleichaltrigen, sucht und findet man aber auch den Trost und die Wärme, die einem verwehrt werden. Auf dem weitläufigen Gelände der Königsheide treibt sich auch Brigitte rum. Sie läuft Rollschuh auf der zentralen Allee, die direkt auf das Schulgebäude zuläuft, sie besucht den kleinen Streichel-Zoo der Königsheide und sie bastelt begeistert. Bis auf klöppeln kann sie alles.
Die Kinder aus der Nachbarschaft, aus Schöneweide oder Treptow, meiden die Kinder aus dem Kinderheim, etwas Unausgesprochenes liegt zwischen ihnen. Sie zu meiden ist auch nicht schwer, sie sind weithin an ihren ähnlichen Jacken zu erkennen. Zumindest die Kleinen. Kleidung stellt das Kinderheim zur Verfügung. Mit Aussuchen ist da nichts. Einmal in der Woche ist Wechseltag, dann muss die schmutzige Wäsche in der Kleiderkammer abgegeben werden. Brigitte ist nicht die Einzige, die vor Neid vergeht, wenn das Mädchen aus dem Westen mit ihrem Petticoat den Speisesaal betritt.
Zur Jugendweihe bekommen endlich alle einmal die Möglichkeit sich herauszuputzen. Am Tag vorher gehen alle Mädchen zusammen zum Friseur, bekommen ordentlich Haarspray rein und verbringen anschließend die Nacht im Bett sitzend. Vor Aufregung und um die Frisur nicht zu zerdrücken. Dann ist es endlich soweit und da stehen sie: Brigitte und ihre Gefährtinnen, fast alle in den gleichen Kleidern und fast alle in den gleichen weißen Schuhen.
Am Wochenende und in den Ferien darf Brigitte zu ihrer Großmutter in die Brunnenstraße, aber nur, wenn sie ihre vielen Dienste ordnungsgemäß erfüllt hat und kein Erzieher es für nötig hält, sie grundlos zu schikanieren. Sie wissen, wo man sie am empfindlichsten trifft. In der Brunnenstraße teilt sie sich noch immer das Bett mit ihrer Großmutter. Die beiden schlafen zwischen riesigen Federbetten und führen ihr Leben, als müsste Brigitte am Sonntag nicht zurück in die Königsheide. Manchmal wünscht sie sich Kleidung von ihrer Großmutter. Wenn ihre geringen Mittel es erlauben, fährt diese dann in den Westen rüber und kauft ihr, was sie sich gewünscht hat. Aber tragen darf sie diese Sachen nur in der Brunnenstraße. Wenn Brigitte für das Wochenende in der Ofenheizungswohnung ihrer Großmutter ist, vermisst sie von der Königsheide nicht mehr als die Zentralheizung.

 

 

Brigitte wird entdeckt

Das ehemalige Warenhaus Jandorf, Brunnenstraße Ecke Veteranenstraße war ab 1952 Sitz des Modeinstituts der DDR. Hier ein Foto von 1955, aufgenommen anlässlich des im August des Jahres stattfindenden Internationalen Modewettbewerbs. Das Warenhaus war 1904 im Auftrag von Adolf Jandorf erbaut worden. In den 20-er Jahren kaufte es die Firma Hermann Tietz. 1933 wurde die Firma Tietz mit Hilfe der Dresdner Bank enteignet. Der Verkaufsbetrieb lief bis 1945. Weder die sowjetische Militäradministration, noch die SED führten Restitutionen widerrechtlich enteigneten Privatbesitzes durch. Geraubte Vermögenswerte wurden in Volkseigentum überführt. Daher konnte das Ministerium für Leichtindustrie das ihm nachgeordnete Modeinstitut 1952 in diesem Gebäude unterbringen.

 


Die Pramo sieht von außen aus wie eine Vogue. Zu kaufen gibt es die hier gezeigten Kleider allerdings nicht. Interessierte können sie sich mit Hilfe der beigefügten Schnittbögen nachschneidern.

 

 

Bei einem Spaziergang mit ihrer Großmutter wird Brigitte von einem Mitarbeiter des Modeinstituts der DDR als Modell entdeckt. Das Modeinstitut wurde 1952 als Institut für Bekleidungskultur gegründet und sitzt in einem ehemaligen Warenhaus Brunnenstraße Ecke Veteranenstraße. Also gleich um die Ecke von Brigittes Großmutter. Es hat die Aufgabe, die Entwicklung der Textil-, Bekleidungs- und Lederindustrie in der DDR vorzugeben. Hier wird bestimmt, was das Personal im Palast der Republik, die Pioniere und die Fernsehansagerinnen zu tragen haben. Hier werden aber auch Modelinien und Musterkollektionen erarbeitet, zwar mit Blick auf die internationale Entwicklung, doch immer unter dem Diktat von Rohstoffengpässen. Mit neuen preiswerten Fasern sollen diese Engpässe überwunden werden. Zu kaufen gibt es die Kleidung, die hier entwickelt wird, nicht. Die Fotos, die an die Öffentlichkeit gelangen, werden eher als Anregung verstanden. Bei der Planung der Versorgung der Bevölkerung mit Kleidung werden die Bemühungen hunderttausender DDR-Bürgerinnen, das in der „Sibylle“ gesehene Kleid zu Hause nach zuschneidern, als feste Größe miteinkalkuliert.
Brigitte ist 17 Jahre alt und zögert nicht, als sie gefragt wird, ob sie als Modell arbeiten will. Sie lernt den aufrechten Gang, wird durch die Republik kutschiert und glänzt auf Laufstegen. Fotos von ihr erscheinen in einem Sonderheft für Jugendmode der Zeitschrift Pramo, kurz für Praktische Mode. Neben der „Sibylle“ die bedeutendste Modezeitschrift in der DDR. Anders als dort werden in der Pramo den Fotos der Kleider Schnittmusterbögen gleich beigegeben. In der Königsheide sind die Gemüter gespalten. Viele gibt es, die sich mit Brigitte freuen. Doch einige reagieren feindselig. Die Feindschaft gegen das Schöne, dagegen, etwas Schönes feiern zu wollen, es gar besitzen zu wollen, ist allerdings keine Frage der politischen Linientreue. Dem Vorwurf der Dekadenz, den die sozialistische Ästhetik ihr gegenüber erhebt, wurde sowieso nie geglaubt. Es ist Neid. Bei Kindern wie Erwachsenen.

 

 

Die Entlassung

Der Traum währt nicht lange. Brigitte ist bald volljährig und wird das Heim verlassen. Als Ausweis der erfolgreichen Verwandlung in eine sozialistische Persönlichkeit taugt in der DDR nur ein Arbeitsplatz und eine solide Ausbildung. Wenn die Jugendfürsorge einen Zögling in die Unabhängigkeit entlässt, dann nicht ohne Ausbildungsplatz. Brigitte könne doch eine Ausbildung zur Blumenbinderin machen, heißt es. Als Modell könne sie ja abends, nach der Berufsschule arbeiten. Brigitte soll sich entscheiden. Doch zu entscheiden gibt es da nichts. Der Tag hat schließlich nur 24 Stunden. 1969 wird Brigitte aus dem Heim entlassen. Auf der Entlassungsbescheinigung wird ihr die Aushändigung ihres Sparkassenbuches quittiert, darauf knapp 300 Mark. Ihr Lohn für ihre Arbeit als Mannequin.
Brigitte zieht wieder zu ihrer Großmutter in die Brunnenstraße und beginnt ihre Ausbildung beim Blumenhaus Interflor. Das Blumenhaus ist in einem der Verkaufspavillons untergebracht, die die Karl-Marx-Allee zwischen Schillingstraße und Strausberger Platz säumen. Eine der ersten Adressen. Zwei U-Bahn-Stationen die Straße runter beginnen die Arbeiterpaläste im Zuckerbäckerstil. Sie sind Teil desselben groß angelegten Bauprojektes, das am Frankfurter Tor ambitioniert begann und gen Alexanderplatz immer bescheidener wurde. Brigitte lernt das Handwerk von der Pike. Ein Brautstrauß wird hier aus der Hand gebunden, das soll ihr erst einmal jemand nachmachen. Brigitte schließt alles mit Eins ab. Sie liebt ihren neuen Beruf und ist gespannt, was das Leben noch alles für sie bereithält. Wenn nur die Alpträume bald aufhören würden.

 

Literaturempfehlung

  • Brigitte: Zu Unrecht beschuldigt/ Elke Soyoguz, in: Ein Heim – und doch ein Zuhause? Heim-Echo Band I/ Gründungsinitiative Stiftung Königheide (Hg.). Beggerow, 2015, S. 139-144.
    Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR: Expertisen/ Beauftragter der Bundesregierung für die neuen Bundesländer (Hg.). Arbeitsgemeinschaft für Kinder und Jugendhilfe AGJ, 2012.
  • Mißlungene Kindheiten: zum unsozialistischen Aufwachsen von Kindern in der DDR/ Sabine Gries. Lit-Verlag, 1994.
  • Jugend in der DDR: zu Jugendalltag und Jugendproblemen im „Sozialismus“/ Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.). Mintzel-Druck, 1988.
  • Chic im Osten: Mode in der DDR/ Ute Scheffler. BuchVerlag für die Frau, 2010.
  • Das große DDR-Mode-Buch: Geschichten und Bilder aus dem Modealltag/ Thomas Kupfermann (Hg.). Eulenspiegel-Verlag, 2010.
  • Pramo Sonderheft Jugendmode: jung und chic. Verlag für die Frau, 1969.

 

Brigitte Hoffmann | Projektarbeit von Bettina Farack