Vico Leon

Vico Leon

| Heimkind in der Königsheide von 1983 bis 1994 

 

Leben in der Königsheide

Das Kinderheim in der Königsheide, später auch „A.S. Makarenko“ genannt, war das größte Kinderheim der DDR und bestand von 1953-1983. Ab 1983 wurde es zu einem Hilfsschulheim umgewandelt und 1998 geschlossen. Wenn man sich die Entwicklung Berlins in diesem Zeitraum vergegenwärtigt, wird einem klar, dass das Leben im Kinderheim und damit auch der Alltag starke Wandlungen durchlaufen haben muss. Zu DDR-Zeiten eröffnet und jahrelang durch deren Entwicklung geprägt, war auch das „A.S. Makarenko“ eine Einrichtung, die die Wende nicht ohne damit einhergehende Veränderungen durchlebt hat. Mit einer Auslastung von zeitweise 600 Kindern und Jugendlichen aller Altersgruppen und einer extrem hohen Ab- und Zugangsrate an Mitarbeitern, haben viele Generationen die Königsheide erlebt. Aber wie haben sie dort gelebt und wie hat diese Zeit ihr Leben verändert? Wir kamen nicht umhin uns zu fragen, inwiefern sich unser Alltag vom Alltag der Kinder in der Königsheide unterscheidet.

Das „A.S. Makarenko“, mit einer eigenen Schule, Wohnungen, Krankeneinrichtung und vielem mehr, erinnerte fast an eine kleine eigene Stadt in der Stadt. Mit Zaun und Tor, eingeschlossen wie unter einer Kuppel. Ein geschlossenes System in einem geschlossenen System.
Die kleinen Bewohner der Königsheide kamen aus verschiedensten familiären und sozialen Verhältnissen. Der Kontrast zwischen dem was sie kannten, dem was sie kennen lernten und dem was noch kam, ist immer eine eigene Geschichte. Eine Geschichte, die erzählt werden sollte.
Heute besteht der Großteil des Königsheidegeländes immer noch. Die Gebäude werden saniert und zur Vermietung bereitgestellt. Neue Bewohner beleben den Ort, der in der Geschichte so vieler Menschen eine Rolle gespielt hat und nun vielleicht auch noch in der nächsten Generation spielen wird. Ein Ort, dessen Bedeutung nicht vergessen werden darf.

 

Vico Leon

Vico lebte von 1983 bis 1994 in der Königsheide. Als Vico mit 10 Jahren in das Kinderheim kam, hatte er bereits eine Odyssee an Heimaufenthalten hinter sich. Rund 10 Kinderheime hatte er bereits vor der Königsheide durchlaufen. Dass er nun endlich fest untergebracht wurde, war der Tatsache geschuldet, dass er durch sein vorher unstetes Leben schulisch weit hinter den Gleichaltrigen zurücklag. Im „A.S. Makarenko“, damals bereits ein Hilfsschulheim, verbrachte er die nächsten 11 Jahre seines Lebens und erlebte dort mit 15 Jahren den Mauerfall.
Die Unterbringung in der Königsheide war für ihn zweifellos eine Rettung. Dort konnte er im Schutz fester Strukturen seine Restkindheit verbringen. Vor dem Kinderheim lebte er mit seiner Mutter, seinem Stiefvater und seiner kleinen Schwester in einer Wohnung nahe der Museumsinsel. Seinen richtigen Vater hat er nie kennengelernt.
Wenn er mit uns über seine Eltern sprach, nannte er sie bloß „meine Alten“. Zweifellos waren sie nicht das, was man unter dem Begriff Eltern verstehen würde. Verwahrlost und ohne Strukturen wuchs Vico dort auf. Reflektiert nannte Vico seine frühe Kindheit „Zigeunerleben“. Mehr ein Überleben als eine Kindheit, in dem der rettende Beschluss, ihn in der Königsheide unterzubringen, viel früher hätte kommen müssen.

 

 

Als wir Vico trafen, lernten wir ihn als sehr aufgeschlossenen Menschen kennen, der sich gerne mit uns unterhielt und wir gespannt zuhörten, wenn er seine Geschichte mit uns teilte. Im Laufe der Gespräche und des Kontakts wurde unser verschwommenes Bild von der Königsheide und seinem Leben darin immer schärfer.
Uns interessierten besonders die Veränderungen. Die Veränderungen in der Königsheide, die Veränderungen in seinem Leben, während sich auch die Außenwelt drastisch änderte. Vico lieferte uns einen tiefen Blick auf ein Bild. Ein Bild mit Kontrast und Konturen, verschwommen vom Schleier mehrerer Welten, die aufeinanderprallten.

Heute ist Vico dabei, das Erlebte aufzuarbeiten, Lücken zu schließen und sieht dabei trotzdem nach vorne. Irgendwann in seinem Leben traf er die Entscheidung, Berlin zu verlassen und einen neuen Lebensabschnitt in Köln zu beginnen. In dieser Zeit schöpfte er Kraft und als er gestärkt in seine Geburtsstadt zurückkehrte, bewarb er sich auf einen Studienplatz. Derzeit studiert er Photographie und fängt so mit einem ungetrübten Blick das Leben ein, das er sich selbst eröffnet hat.

 

Das Interview

Vor dem Interview holten wir Vico an einem vereinbarten Treffpunkt ab und führten ihn in die Leselounge unseres Instituts. An einem Sonntag war das Institut wie ausgestorben. So konnten wir entspannt und ohne Störungen alle Vorkehrungen treffen und uns mit einem lockeren Gespräch über die vergangenen Feiertage auf das Interview einstimmen. Ungezwungen und entspannt starteten wir mit einer einfachen Vorstellung, um Vico den Einstieg in das Gespräch zu erleichtern.

 

 

Zu Beginn des Interviews erzählte uns Vico wie er zur Königsheide gekommen ist. Dabei erfuhren wir, dass vor allem sein Rückschritt im schulischen Lehrplan ausschlaggebend für die permanente Unterbringung war und dass es in seinem vorherigen Leben keinerlei Kontrolle gab, ob er die Schule überhaupt besuchte.
Als wir uns dann dem Thema Alltag näherten und Vico baten, uns von den Strukturen und dem alltäglichen Leben in seiner Zeit vor der Königsheide zu berichten, erzählte er uns unverblümt und ohne Beschönigungen, dass es dort nichts Dergleichen gegeben hatte. Er benannte es als „in den Tag hinein leben“. Er war für sich selbst verantwortlich, während seine „Alten“ mit viel Alkohol vor sich hinvegetierten und er irgendwie die Jahre vor dem Kinderheim hinter sich brachte.

Dementsprechend gab es einen starken Kontrast, als Vico in die Königsheide kam. Detailliert schilderte er uns den Ablauf des Kinderheimalltags. Sein Leben bekam feste Strukturen, die er vorher gar nicht kannte, aber dringend brauchte. Schon am Morgen begann der Tag geregelt. Aufwecken, waschen, frühstücken, Schule. Für viele ganz gewöhnliche Tagesabläufe, doch für Vico war es etwas Ungewohntes und er brauchte einige Zeit, bis er sich an das geregelte Leben gewöhnt hatte. Durch die vielen Jahre, in denen er sich selbst bestimmen musste, fiel es ihm in der Anfangszeit nicht leicht, sich mit den neuen Regeln zu arrangieren. Er rebellierte. Doch nach der Eingewöhnungsphase lernte er, sich an sein neues Leben anzupassen und auch wenn es mal Reibereien gab, war er dankbar dort und nicht bei seiner „Familie“ leben zu müssen.

In der Königsheide wurde ihm die Möglichkeit gegeben, eine glückliche Restkindheit zu erleben, auch wenn das Heim kein vollständiger Familienersatz sein kann.
Als Vico älter wurde und die Schule erfolgreich abschloss, entschied er sich, eine Lehre zu beginnen. Mit 15 Jahren wohnte er weiterhin auf dem Gelände des Kinderheims, besuchte jedoch täglich eine Berufsschule, die außerhalb gelegen war. Zu dieser Zeit erlebte er auch den Mauerfall. Als er eines Tages auf dem Weg zu seiner Ausbildungsstätte den Aufruhr und die Veränderungen bemerkte, überquerte er noch am selben Tag mit Freunden den ehemaligen Grenzstreifen und besuchte zum ersten Mal West-Berlin. Ein einschneidendes Erlebnis, von dem er noch heute mit viel Freude berichtet.

Unter der Kuppel der Königsheide waren zunächst kaum Veränderungen durch die Wende spürbar. Das sollte sich jedoch schnell ändern. Nach dem Mauerfall wurden dem Heim die meisten finanziellen Mittel gestrichen und das hatte auch Auswirkungen auf die Kinder und Jugendlichen. So musste Vico zum Beispiel Miete zahlen, damit er auf dem Heimgelände bleiben durfte.

Auch das neue politische System hatte Einfluss auf das Leben im Kinderheim: es gab nun ein extra Gebäude, in dem Jugendliche auf das Leben „draußen“ und im Kapitalismus vorbereitet wurden. Dort wurde ihnen gezeigt, wie man Verträge abschließt, Bewerbungsgespräche führt und sich auf dem Arbeitsmarkt behauptet. Das erleichterte Vico den Austritt aus dem Kinderheim und das Ankommen im „richtigen“ Leben.

Vico denkt gerne an seine Zeit in der Königsheide zurück und man hört aus seinen Erzählungen heraus, wie wohl er sich dort gefühlt hat. Ein besonderes Erlebnis, an das er sich noch erinnert, ist zugleich glücklich und ein wenig traurig.

Das Kinderheim A.S. Makarenko unterhielt Kooperationen mit anderen Kinderheimen, auch im sozialistischen Ausland. Nur Kinder mit besonderen Leistungen oder besonders vorbildlichem Benehmen wurden vorgeschlagen, um an einer Fahrt in ein Kinderheim im Ausland teilzunehmen. Einmal wurde auch Vico von seiner Erzieherin empfohlen. Er freute sich sehr, nach Ungarn fahren zu dürfen und genoss die Anerkennung.

Vico war jedoch nicht immer nur ein Musterschüler, sondern eben auch ein normales Kind, das sich ausprobiert und mit Freunden Spaß haben will. So schlichen er und einige andere Kinder sich manchmal nachts heraus, um Höhlen im Wald zu bauen. Als sie dabei erwischt wurden, wurde entschieden, dass Vico doch nicht mit nach Ungarn fahren durfte. Inzwischen hat er diesen Besuch als erwachsener Mann nachgeholt.

Auch wenn das Leben Vico einige Hürden gestellt hat, war die Königsheide für ihn ein Zuhause, das ihm einen besseren Start in sein Leben ermöglichte.
Vollkommen egal, welche Umstände Vicos Leben beeinflussten, sie haben ihn an den heutigen Punkt geführt und das ist gut so.