Wolfgang Volkmann

Wolfgang Volkmann

 | Heimkind in der Königsheide von 1953 bis 1966

 

 

Erst seit dem Jahr 2011 setzt sich Wolfgang Volkmann intensiv mit seiner eigenen Vergangenheit auseinander, nachdem er nach über 40 Jahren seinen alten Freund Jürgen aus dem Kinderheim Königsheide über „stayfriends“ wiedergefunden hatte (nachfolgendes Bild, W. V. rechts). Selbst seinen eigenen Söhnen sowie engen Freunden und Kollegen hat er stets verschwiegen, dass er im Heim aufgewachsen ist. Er wollte sich und seine Lieben vor der Gesellschaft schützen, denn Heimkinder wurden als „dumm, frech und dämlich“ bezeichnet ohne den Menschen hinter der Geschichte zu kennen.

 

 

Das Kinderheim Makarenko in Berlin-Johannisthal wurde nach dem sowjetischen Pädagogen und Schriftsteller Anton Semjonowitsch Makarenko benannt. Es wurde als Kinderstadt mit Säuglings- und Kleinstkinderstation mit Schule, Sportplatz, Ambulatorium und Unterkünften konzipiert. Es beherbergte seit der Eröffnung in den Jahren 1952/53 rund 600 Kinder und galt als das größte Kinderheim in der DDR. Nach der Wende lebten dort noch bis 1997 physisch und psychisch geschädigte Kinder und junge Straftäter, danach lag das Gelände brach und wurde von einer irritierenden Stille durchzogen. Heute ist das nunmehr von einst zwölf auf sechs Hektar verkleinerte Areal fast komplett saniert worden und Familien mit ihren Kindern sind in den ehemaligen Häusern der Heimkinder in neue Wohnungen eingezogen – es wird heute als Wohnpark Königsheide bezeichnet. Für ehemalige Heimkinder ist es ein Ort, der für unbeantwortete Fragen über ihre Herkunft und Identität steht.

 

Das Leben im Heim

Geboren wurde Wolfgang Volkmann am 27. März 1950 in Berlin-Johannisthal – seine leibliche Mutter sollte er nie kennenlernen, da diese bei der Geburt ihres sechsten Kindes im Jahr 1953 verstarb. Im selben Jahr kam er mit der Eröffnung in das Kinderheim Königsheide, vorher war er bereits in einem Heim in Vogelsang – eventuell in Mecklenburg-Vorpommern – untergebracht. Unterlagen zu seiner Person sind nicht mehr aufzufinden. Er wuchs behütet im Heim auf und erlebt eine durchaus schöne Kindheit. Er war einen ruhiges Kind weniger Worte. In der Freizeit gab es verschiedene Arbeitsgemeinschaften, die freiwillig gewählt werden konnten. So hatte man die Möglichkeit, sich selbst auszuprobieren und Fähigkeiten und Fertigkeiten für das weitere Leben zu erwerben. Herr Volkmann war in der AG „Kunst“ aktiv, ein Hobby, das er noch heute ausübt, denn nebenbei betreut er heute verschiedene Malgruppen im Haus der Begegnung in Rheinsberg. Es gab eine politechnischen Oberschule von der 1. bis zur 10. Klasse im Kinderheim in der Königsheide.

 

Es wurde nach staatlichen Lehrplänen unterrichtet, diese waren in der ganzen DDR verbindlich und damit war ein einheitlicher Bildungsstand möglich. Natürlich war dieser auch vom individuellen Leistungsniveau und der Lernbereitschaft des Einzelnen abhängig. Für leistungsschwache Schüler gab es dann die Möglichkeit von kostenlosem Förderunterricht bis hin zum Besuch von Förderschulen. Aus heutiger Sicht wurden die Kinder in den Gruppen der einzelnen Häuser nicht zu sozialistischen Persönlichkeiten erzogen. Es wurden Eigenschaften wie Ehrlichkeit, Sauberkeit, Verantwortungsbewusstsein, Fleiß und Benehmen anerzogen, die den Kindern im späteren Leben noch sehr zu Gute kamen.
Die Erzieher waren wie Eltern für die Kinder und für die Vermittlung von Werte und Normen zuständig. Viele gaben sich Mühe, konnten aber auf Grund der vielen Kinder in den Gruppen nur ansatzweise Elternersatz sein. Unter den Kindern und später den Jugendlichen waren Rangeleien üblich – es galt das „Wolfsgesetz“. Im Heim waren es die größeren Kinder, die das Sagen hatten. Die Kleineren haben sich einfach untergeordnet. Verpetzen unter den Kindern wurde nicht gern gesehen und Konflikte waren an der Tagesordnung, jedoch wurden diese meist unter den Kindern geklärt. „Es gab auch gerne mal Zimmerkeile“ wie Herr Volkmann erzählt. Mit dem neuem Heimleiter Herr Graupner im Jahr 1965 änderten sich die Strukturen, so waren von nun an Appelle und Belehrungen an der Tagesordnung. Die Demonstrationen zum 1.Mai in Berlin und die Pionierarbeit waren nicht bei allen Kindern beliebt, so auch bei Herrn Volkmann.

 

Das Leben hätte auch anders verlaufen können

Im Alter von fünf Jahren wurde Wolfgang Volkmann mit fünf anderen Jungen zum Heimleiter gerufen. Die Kinder putzen sich heraus und trafen auf das Ehepaar Fischer. Da er wohl ihrem eigenen Sohn Peter sehr ähnlich sah, fiel die Wahl als Pflegekind auf ihn. So wurde er, der nun den Namen Volkmann-Fischer trug, von nun an freitags abgeholt und verbrachte die Wochenenden mit seinen Pflegeeltern und seinem großen Bruder. Nach einem Jahr endete der Kontakt zur Familie abrupt und ohne Grund. Erst zu seiner Jugendweihe mit vierzehn Jahren gab es ein überraschendes Wiedersehen mit den Fischers, dabei erfuhr er, dass sie sich ständig nach ihm erkundigt hatten, jedoch wurde mit ihm darüber nie gesprochen. So näherten sich Herr Volkmann und die Fischers wieder an und es kam wieder zu regelmäßigen Wochenendbesuchen. Er lernte nun als junger Erwachsener eine ganz andere Seite des Lebens kennen, denn die Fischers führten ein sehr politisches Leben in der oberen Gesellschaft der DDR. Herr Fischer war Generalsekretär der deutsch-amerikanischen Freundschaft in der Botschaft und Frau Fischer arbeitete als freischaffende Übersetzerin. So wurde zum 13. August mit roten Nelken und Sekt gefeiert und die Familie lebte fast ausschließlich von Westwaren. Die Vorzüge des Sozialismus wurden gepriesen und er fühlt sich dabei sehr agitiert. Der gesamte Freundeskreis seiner Pflegeeltern war ihm nicht immer geheuer; da es zu viele interne Informationen mit anschließender Schweigepflicht gab. Im Jahr 1980 kam es dann zum endgültigen Bruch mit der Familie Fischer und seinem Bruder, da sie mit seiner unpolitischen Ehefrau nicht einverstanden waren. So setzte er seine eigene kleine Familie vor seine Pflegefamilie. Er selber sagt: „Wäre es zur Adoption gekommen, hätte mein Leben eine ganz andere Wendung genommen“ und meint nicht unbedingt eine positive.

 

Vom Koch zum Lehrer

1966 mit Beginn der Lehre verließ Wolfgang Volkmann das Heim in der Königsheide und wohnte nun in einem Wohnheim auf der Insel der Jugend in Berlin-Treptow. Bis 1969 erlernt er den Beruf des Kochs im Gästehaus der Gewerkschaften in der Friedrichsstraße. Seit seinem dritten Lebensjahr hatte Herr Volkmann den Berufswunsch Koch, denn seit seiner frühsten Kindheit übernahm er Küchentätigkeiten, wie Tisch auf- und abdecken, Bestecke trocknen oder Kartoffeln schälen, im Heim sowie in den Ferienlagern oder der heimeigenen Touristenstation in Prieros bei Berlin. Eine Mitarbeiterin der Küche, die er liebevoll Tante Meter nennt, war wie eine gute Seele und hatte sehr viel für die Kinder im Heim über, die ihm zeigte, wie man solche Tätigkeiten ausübte. Selbst bei ihr Zuhause war er willkommen und koche mit ihr Dinge, die im Heim nicht auf den Tisch kamen. Seine Lehrzeit war nicht immer einfach, so zweifelte er des Öfteren an seiner Berufswahl.
Nach seiner anschließenden dreijährigen Dienstzeit in der Armee entschloss er sich für ein Studium an der Fachschule für das Hotel- und Gaststättenwesen in Leipzig, die völlig von Studienanwärter überfüllt war. Im Herbst 1972 wurde er nach Aschersleben verwiesen und erlangt dort den Beruf des Ökonompädagogen, einem Lehrmeister für die berufspraktische Ausbildung, der Köche in der Praxis begleitet und anleitet. Das Institut war ein Vorzeigeobjekt für ausländische Gäste, da die technische Ausstattung zu dem damaligen Zeitpunkt einmalig für Studieneinrichtungen war. Herr Volkmann selbst bezeichnet es als eine Ausbildung zum „Ökonomidioten“, da Pädagogik im Studiengang viel zu wenig behandelt wurde, sondern mehr Systemkapitalismus und -sozialismus gelehrt wurde. Er tat sich während seines Studiums besonders schwer mit Russisch, eine Sprache, die ihn schon seine Pflegeeltern vergeblich versucht hatten beizubringen, und mit der er schon eine Aversion entwickelte. Die Abschlussprüfung in Russisch bestand er gerade so mit vier, weil er seiner Lehrerin eine Babushka-Puppe schenkte, die er von seinem Stiefvater aus der Botschaft erhalten hatte. Nach seinem Studium kam Herr Volkmann nach Klink an der Müritz als Lehrausbilder, wo er fünf Tage Praxis und nur ein Tag Theorie lehrte. Im Jahr 1988 wechselte er nach Rheinsberg als Leiter für ein Schulungsobjekt mit 27 Arbeitskräften, welches er zwölf Jahre betreute. Seit 2000 bis zu seinem Renteneintritt 2014 arbeitet er als Berufschullehrer am Oberstufenzentrum in Neuruppin.

Sein umfangreiches Wissen weiterzugeben, ist ihm bis heute ein großes Anliegen. Besonders das praktische Anleiten von Schülern macht ihm große Freude und wird dafür von seinen Schülerinnen und Schülern besonders geschätzt, aber auch für sein freundliches offenes Wesen. So wird er von vielen Lehrgruppen zu Treffen eingeladen, an denen er gern teilnimmt. Er kritisiert aber auch die Lernresistenz mancher Schüler und die nicht immer korrekte Berufsdarstellung des Kochs in den Medien. Auch die heutige Bildungsstruktur beim Lehrberuf Koch stellt er in Frage, da die einzelnen Bundesländer mit unterschiedlichen Lehrplänen arbeiten und so das Niveau stark schwankt. So ging er bereits ein Jahr früher in Rente, half aber vertretungsweise in der Grundschule in Rheinsberg aus. Er unterrichtete Mathe und Kunst in der vierten Klasse und wurde im Abschlussgespräch wegen seine Benotung kritisiert, da er wohl nicht nach Lehrplan agierte. Er musste die Noten vieler Schüler, der Generation „Null-Bock“, ändern, was für ihm wie „ein Schlag ins Gesicht“ war. Er vertritt seine Werte und Vorstellungen in jeder Situation, ob beim Umgang mit seinen Enkeln oder früher mit Lehrlingen, die in der rechten Szene aktiv waren.

Heute lebt Herr Volkmann mit seiner Frau in Rheinsberg in Brandenburg. Er hat zwei Söhne und bereits fünf Enkelkinder und genießt seine Zeit als Rentner mit seiner Familie. Sein Hobby die Malerei hat sich inzwischen mehr als 30 Gruppen- und Einzelausstellungen eingebracht. Sein großes soziales Engagement und seine Passion für die Lehre haben sein ganzes Leben charakterisiert; so arbeitet er noch heute mit Schulklassen im Haus der Begegnung in Rheinsberg an verschiedenen Projekten. Er tritt sehr engagiert für das Projekt einer Begegnungsstätte in der Königsheide und der Aufarbeitung ein, da gerade die Arbeit mit echten Zeitzeugen, die das Leben im Heim über Jahre erlebt haben, von unschätzbarem Wert ist. Das Wort Kinderheim hat immer einen negativen Unterton und das Leben bestand nicht aus Schlägen und Strafe. Viele Heimkinder haben ein sehr behütetes und glückliches Leben in der Königsheide erlebt, was ihnen nicht unbedingt in ihren Familien wiederfahren wäre. Heute erzählt Wolfgang Volkmann gerne über seine Zeit in der Königsheide und kann mit seinen Geschichten und Anekdoten den Zuhörer in einen Bann ziehen.

 

Wolfgang Volkmann | Projektarbeit von 
Anika Wilde | Cliff Buschhart | Daniel Jobs | Lina Lassak | Jie Yin