Heidemarie Zschocke
| Heimkind in der Königsheide von 1956 bis 1962
Sie haben mich nicht gewollt
POEM von HEIDEMARIE ZSCHOCKE
Sie haben mich nicht gewollt
Meine Erzeuger –
Diese Erkenntnis ist bitter –
Sie sind fortgegangen
Ohne sich umzusehen
Das Kind liegt im Bettchen
Lacht, ist vergnügt;
Es weiß nichts von ihrem Plan
Weiß nicht, dass es jetzt allein ist.
Eine Schwester betritt den Raum,
hebt den Säugling aus dem Bett
fährt mit zarten Händen
über den kleinen Kopf,
eine Träne rollt über das Gesicht.
Sie weiß von diesem Beschluss.
Noch ein Menschenkind mehr,
das einsam sein wird.
Die junge Heidemarie Zschocke:
Von der Leseratte zur Autorin
Die Person
Das Thema, „Freundschaft“, zu dem Frau Zschocke befragt wurde, ist auf Wunsch der Interviewten um den Bereich „Freizeitgestaltung“ erweitert worden, sodass hier ein kleiner Überblick über den Alltag, die Freizeitbeschäftigung und die Jugend von Frau Heidemarie Zschocke während ihres Aufenthalts in dem Kinderheim Königsheide gegeben wird.
Heidemarie Zschocke durchlief viele Kinderheime. Nach der Geburt im Mai 1944 im Osten Berlins kam sie von dem Kinderkrankenhaus aus erst einmal zu Pflegeeltern, dann jedoch in das Kinderheim Greifswalder Straße. Da dieses allerdings bald darauf geschlossen wurde, musste sie in ein Heim an die Ostsee wechseln, welches ebenfalls nicht das neue Zuhause sein sollte. Diese Heime unterstanden ab dem 07.10.1949 dem Ostdeutschen Staat, wie es im dem SMAD (Sowjetische Militäradministration)–Befehl 225 stand.
Das Mädchen musste nach kurzer Zeit in ein evangelisches Heim der Amalienstiftung ziehen und wurde dort regelmäßig wegen seines Bettnässens gezüchtigt. Da das Kind Heidemarie einen staatlichen Vormund hatte, durfte sie nicht konfirmiert werden, was wiederum den Ausschluss aus dem Kinderheim zur Folge hatte. Sodann kam sie in das Kinderheim Königsheide unter der Leitung des Herrn Günter Riese, was sie heute als Glücksfall bezeichnet.
Das Schulgebäude der Königsheide:
Ab dem 19.09.1956, im Alter von zwölf Jahren, wurde das Gelände in Berlin–Schöneweide (Deutsche Demokratische Republik), ihre Heimat. Das Heim wurde auch als Kinderheim Makarenko bezeichnet, genannt nach dem sowjetischen Pädagogen und Schriftsteller Anton Semjonowitsch Makarenko. Auf dem 12hektar großen Gelände befanden sich das Verwaltungsgebäude mit großem Speisesaal, die Säuglingsstation sowie eine kleine Krankenstation, die Häuser eins bis vier, wo die Kinder nach dem Alter untergebracht waren und eine Schule. Des Weiteren gab es einen Pausenhof, einen großen Sportplatz sowie ab 1958 eine Turnhalle, ein Wasserbecken, eine kleine Theaterbühne und – ab 1961 – ein kleines Tiergehege. Später, 1969, als die Oberstufe eingeführt wurde, kam noch ein weiteres kleineres Schulgebäude hinzu. Das Gelände war wie eine Stadt in der geteilten Stadt Berlin angelegt und wurde mit einem Jägerzaun sowie mit einem Haupttor gesichert.
Luftaufnahme vom Areal der Königsheide:
Seit der Eröffnung 1952 gab das Heim ca. 600 Kindern pro Jahr ein sozialistisches Zuhause, wobei die Zusammensetzung der Kinder variierte. In der Zeit in der Frau Zschocke untergebracht war, war das Heim für „normalerziehbare“ Kinder und Jugendliche ausgerichtet. Der Alltag war durchgeplant: In den Anfangszeiten des Heimes gab es den Frühsport bevor die Kinder sich waschen mussten. Dann wurde im Speisesaal gefrühstückt, um anschließend gestärkt den Schulalltag zu bestreiten, in dessen Verlauf sie auch Kontakt zu Kindern bekamen, die außerhalb des Geländes wohnten, dort allerdings zur Schule gingen. Alsdann gab es Mittagessen und eine Ruhezeit, in der die Älteren nicht mehr schlafen mussten, jedoch sich still verhalten sollten. Die folgende Zeit war für die Hausaufgaben und die Freizeitgestaltung vorgesehen. Meistens mittwochs und samstags konnten die älteren Heimkinder mit dem Passierschein nach draußen in die Stadt gehen, wo sie andere Jugendliche treffen konnten, wobei nicht immer der offizielle Weg genommen wurde. Ab und zu verschwand Frau Zschocke auch „durch den Zaun“, wie sie sich selbst ausdrückt, um mit den Bekanntschaften etwas zu unternehmen.
Neben den offiziellen Gruppenausflügen zum Schwimmen oder ins Kino mit den Erziehern gab es die Pionierarbeit, auch meistens mittwochs. Diese sollte den Kindern ein soziales Miteinander näher bringen und unterstand dem Schulsystem, wurde also als ergänzendes Fach einer außerunterrichtlichen Aktivität begangen. Die Pionierarbeit war die Vorstufe zur Mitgliedschaft in der Freien Deutschen Jugend (FDJ). In dieser Zeit halfen die Heimkinder den älteren Mitmenschen in den umliegenden Kleingärten bei ihrer Hausarbeit, hörten ihnen manchmal auch nur zu oder sammelten in der Umgebung den Müll auf, die sogenannte Werkstoffsammlung. Diese Arbeit verrichtete Heidemarie gerne und mit Stolz.
Ansonsten nutzte sie ihre Freizeit um zu lesen oder sich mit der Clique an der zerstörten Brücke im Südosten am Kanal zu treffen, um der neusten Musik zu zuhören und danach zu tanzen. Dazu wurde das Kofferradio ausgepackt, was einer der außerhalb lebenden Jugendlichen mitgebracht hatte, so wusste Heidemarie immer was gerade angesagt war. Dieser Platz am Kanal wurde für sie außerdem zu einem abgelegenen Leseplatz, an dem sie keiner sehen konnte, unten an dem Treppenabsatz setzte sie sich dann zum Lesen hin. Die Mauer stand zu dieser Zeit noch nicht. Es gab zwar auch Arbeitsgemeinschaften, an der Zahl waren es fünfzehn, aber an diese kann sich Frau Zschocke nicht mehr genau erinnern, aber daran, dass sie ein gutes Verhältnis zu den Erziehern hatte, allerdings würde sie diese nicht als Familienersatz bezeichnen.
Der alte Jägerzaun der Könisgheide.
Obwohl sie ab und zu „durch ein Loch im Zaun“, dem Jägerzaun, verschwand, um sich mit jemanden außerhalb des Heimes zu treffen, bezeichnet sie sich als stilles, ruhiges und ernstes Kind, was selten gelächelt hat. Dafür las sie so viel, dass die Bibliothekarin des Kinderheims Königsheide ihr nicht glauben konnte, dass sie all die Bücher, die sie auslieh, auch wirklich in einer Woche gelesen hatte, weshalb die Bibliothekarin sie dann testete. Zu jedem Buch wurden Heidemarie Fragen gestellt, welche sie auch korrekt beantwortete, nach diesem Verhör durfte Heidemarie weiterhin so viele Bücher ausleihen wie sie wollte, ohne dass ihr im Anschluss wieder Fragen gestellt wurden. Einer ihrer Leseplätze war eine kleine Spalte in ihrem Zimmer. Die Kleiderschränke durften nicht genau an der anliegenden Wand stehen, wo die Heizung befestigt war. Dort gab es eine Lücke, wo ein Stuhl hineinpasste, und auf diesem Stuhl saß das Kind, um zu lesen. Dabei die Beine meist angezogen, so dass sie von der Umwelt nicht wahrgenommen wurde. So kam es, dass selbst ihre Zimmergenossinnen sie nicht bemerkten.
Eine besondere Situation ist Heidemarie Zschocke genau im Gedächtnis geblieben: Ein Pärchen, was nicht schnell genug in der Böschung verschwinden konnte, wurde von dem damaligen Heimleiter Herrn Riese, den sie auch Tugendwächter nannte, entdeckt. Als Strafe, da intime Beziehungen zwischen Jungen und Mädchen nicht gerne gesehen waren, mussten diese sich vor der versammelten Mannschaft im Speisesaal erklären. Dies führte dazu, dass Frau Zschocke sich fremdschämte und für sie klar war, dass sie sich nie bei einem Regelverstoß erwischen lassen wollte, was ihr auch gelang. So wie bei dem Baden der Zimmergenossin.
Eines der Mädchen des Viererzimmers war nach Frau Zschockes Angaben „sehr bürokratisch“. Alles, was das Mädchen erledigen wollte und musste, stand in einem Kalender, unter anderem alle acht Wochen das Haarewaschen sowie das Waschen ihrer langen Hose. Dies führte dazu, dass die Zimmergenossinnen, darunter Frau Zschocke, sich ekelten und in einer Aktion das Mädchen samt ihren Sachen in die Badewanne warfen und sie mit einem Schrubber abschrubbten. Danach änderte dieses Mädchen ihre Waschroutine, aber von den Erziehern gab es keine Ansprache oder Verwarnung. Insgesamt hatte Heidemarie wenig Freundschaften, was zum einem daran lag, dass die Kinder ständig die Gruppen und die Heime wechselten, und zum anderen, dass sie sehr zurückgezogen in diesen Heimen lebte, was nur auf wenige Kinder anziehend wirkte.
In dem Heim der Amalienstiftung waren Freundschaften auch gar nicht gern gesehen, die Kinder hatten zu funktionieren. Woran sich Frau Zschocke aber erinnern kann ist, dass die Kinder, auch wenn sie nicht eng befreundet waren, immer in Wehmut auseinander gegangen sind. Doch eine Freundin hatte sie dann in der Königsheide. Diese riss allerdings nach Westdeutschland aus, da die Grenzen damals noch offen waren. Westdeutschland war für Heidemarie der Klassenfeind. Jedoch behielten sie anfangs den Kontakt indem sie Briefe schrieben, welche über eine externe Freundin abgeschickt wurden. Allerdings hörten diese dann eines Tages auf. Heute haben die Frauen wieder Kontakt, da die alte Freundin nach Frau Zschocke gesucht hatte.
Frau Zschocke räumt jedoch ein, dass sie selbst nie auf die Idee gekommen wäre, nach der Freundin zu suchen. Ebenfalls hat sie noch zu einer weiteren ehemaligen Königsheiderin Kontakt. Diese konnte sich an Heidemarie sehr gut erinnern, da diese den Jüngeren immer eine Gutenachtgeschichte erzählte, die sie sich selbst ausdachte. Dies imponierte ihr so, dass sie nun den Kontakt zu Heidemarie Zschocke suchte. Ansonsten war vieles nur eine Zweckgemeinschaft, da die Kinder untereinander miteinander auskommen mussten, allerdings waren sie immer geschlossen gegen die Erzieher.
Erst 1962, die Mauer existierte bereits ein Jahr, verließ sie das Heim, um ihre Berufsausbildung in einer medizinischen Fachschule, einem Internat in Berlin–Buch, anzutreten, um Krankenschwester zu werden. Nach zweijähriger Ausbildung bestand sie die Zwischenprüfung wegen mangelnder Reife jedoch nicht. Ihr wurde angeboten, dass sie ein weiteres Jahr als Stationshilfe arbeiten könne, um dann das Abschlussjahr zu beginnen. Dies lehnte Frau Zschocke ab, denn sie wollte erstens mehr Geld verdienen und zweitens hatte sie ein Problem mit Autoritäten, die kommandoartige Befehle gaben.
Also ging sie als Produktionsarbeiterin in die DEFA (Deutsche Film AG) – Kopierwerke und arbeitet dort als Trockenschrankwartin. Dort trocknete sie die Filmrollen und kettete diese anschließend wieder aneinander. Dies weckte in ihr den Wunsch, die Ausbildung als Kopierfacharbeiterin zu machen, allerdings kam da ihr erstes Kind auf die Welt. Da das Kind während der Ausbildung nicht versichert gewesen wäre, blieb sie bei dem Kind zuhause. Zu dieser Zeit lebte sie verheiratet in Prenzlauer Berg und das zweite Kind war unterwegs. Später arbeitete sie in der Frühschicht bei der Post und trug die Zeitungen aus. Wenn sie nach Hause kam, ging ihr Mann zur Arbeit und sie kümmerte sich um die Kinder.
Als die Kinder älter waren, schloss sie die Ausbildung zum Verkehrskaufmann – in der DDR gab es keine weibliche Bezeichnung für den Beruf – ab und arbeitete dann als Sekretärin im Büro. Erst viel später hat sie erfahren, dass sie noch fünf Geschwister hat, mit denen sie aber kaum bis gar kein Kontakt hat. Mit einer Schwester brach der Kontakt komplett ab, nachdem Heidemarie Zschocke´s Geschichte erschien und die Schwester die – ihrer Meinung nach –falsche Darstellung der Eltern kritisierte. Vieles, was Frau Zschocke weiß, hat sie vom Hören–Sagen.
Das alte Schulgebäude der Königsheide, neu aufgenommen im Januar 2017:
Im Nachhinein meint sie aber, dass es doch besser war, im Heim aufzuwachsen als bei ihren Eltern unter den gegebenen Umständen. Vieles hatte sie verdrängt und konnte sich nur langsam an die Dinge und das Leben im Heim erinnern. Heute ist Frau Zschocke eine selbstbewusste, taffe Frau, die seit 50 Jahren mit ihrem Mann zusammen ist, drei Kinder, fünf Enkelkinder und schon drei Urenkelkinder hat und gerne verreist. Außerdem verarbeitet sie vieles in ihren Gedichten und schreibt gerne Kindergeschichten. Aus dem stillen, in sich gekehrten, lesenden Mädchen ist eine starke, schreibende Frau geworden, die von sich selbst sagt, dass sie anscheinend das Reden nachholen muss und deshalb gerne einen Beitrag zu der Aufarbeitung der Geschichte des Kinderheimes beiträgt.
Heidemarie Zschocke | Projektarbeit von
Anika Wilde | Cliff Buschhart | Daniel Jobs | Lina Lassak | Jie Yin